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Batı Trakya

Zwischen Existenz und Auslöschung: Die Unsichtbarkeit von Minderheitengruppen

09.11.2005
Zu den Problemfeldern, mit denen sich Menschenrechtsbeobachter über die vergangenen drei Jahrzehnte hin in Griechenland befasst haben, gehört der mangelhafte rechtliche Rahmen, in dem sich die Politik der griechischen Regierung gegenüber Minderheiten bewegt. Grundlage dieses Gefüges ist der Anspruch des griechischen Staates, dass „die einzige offiziell anerkannte Minderheit in Griechenland die muslimische Minderheit in West-Thrakien“ ist, so jüngst wieder angeführt im Ausgangsbericht des Landes an den Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee) der Vereinten Nationen. Tatsächlich ist die „Muslimische Minderheit in West-Thrakien“ die einzige Gruppe griechischer Staatsbürger, der als Angehörigen einer Minderheit besondere Rechte garantiert werden – Diese Rechte sind im Friedensvertrag von Lausanne von 1923 festgeschrieben. Seit dieser Zeit haben auch andere Gruppen griechischer Staatsbürger den Anspruch auf das Recht erhoben, als Minderheiten geschützt zu werden. Am besten publiziert sind die Fälle von in der Region Florina lebenden Personengruppen, die das Recht beanspruchen, sich selbst als „Mazedonier“ zu bezeichnen, sowie von Mitgliedern der oben genannten, offiziell anerkannten Gruppe, die das Recht auf „türkische“ Identität beanspruchen. Als Antwort hat der griechische Staat die Existenz irgendeiner anderen als der „muslimischen“ Minderheit auf seinem Staatsgebiet abgestritten. Dieser Streit hatte Auswirkungen auf die Fähigkeit des Staates, seiner Verpflichtung nachzukommen, die individuellen Menschenrechte von Personen zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen, die eine politische Position vertreten, die nicht mit der offiziellen Politik in dieser Angelegenheit übereinstimmt, insbesondere im Hinblick auf das Recht zur freien Meinungsäußerung und die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit.

Amnesty International vertritt den Standpunkt, dass die Frage nach der Existenz einer Minderheit auf der Grundlage von rationalen und objektiven Kriterien zu klären ist. Da es keine international akzeptierte Definition von ‚Minderheiten’ gibt, müssen eigenmächtige Unterscheidungen, die auf Anerkennung oder Nichtanerkennung beruhen, als diskriminierend gelten. Daher sollten Staaten es vermeiden, Gruppen aufzulisten, für die Minderheitenrechte gelten, weil solche Listen dazu neigen, andere auszugrenzen. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheitengruppe sollte auf eigener Wahl beruhen und das subjektive Element einer solchen Zugehörigkeit sollte gegenüber einer erzwungenen Assimilation von Personen in eine Gruppe in Schutz genommen werden. In Ermangelung anderer Kriterien sollte die Existenz einer Minderheit durch die Selbstbestimmung der eigenen Identität (self-identification) definiert sein. In diesem Sinne hat der UN-Menschenrechtsausschuss in seiner Allgemeinen Stellungnahme (General Comment) Nr. 23 festgestellt, dass „die Existenz einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit in einem bestimmten Staat nicht auf der Entscheidung seitens des Staates beruht, sondern eine Feststellung nach objektiven Kriterien erfordert.“

Dieser Teil des Berichts fasst jüngste Entwicklungen in diesem Bereich der Menschenrechtspraxis in Griechenland zusammen. Während der vergangenen zwei Jahre hat Amnesty International zu diesen Themen Informationen von lokalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen erhalten, die Körperschaften und Personen beobachtet haben, welche zu nicht offiziell anerkannten Minderheitengruppen gehören. Während des Besuchs einer Amnesty-International-Delegation in Griechenland im Januar 2005 hatten die Delegierten auch Kontakt mit Mitgliedern der „muslimischen“ Minderheit in West-Thrakien. Die Organisation konnte sich auch über weitere Verletzungen von Menschenrechten informieren, die sich daraus ergeben, dass der griechische Staat es versäumt hat, Opfer von Diskriminierungen zu entschädigen, zu denen es durch eine bereits zurückgezogene Rechtsprechung gekommen war. Die Ergebnisse sind ebenfalls im diesem Kapitel des Berichts aufgeführt.

Nichtanerkennung von Minderheiten

In einem ähnlichen Fall hat der Oberste Gerichtshof Griechenlands am 7. Februar die ‚Türkische Union von Xanthi’ mit der Begründung verboten, dass sie eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der nationalen Sicherheit darstelle und dass ihr „Ziel im Widerspruch zu den in Lausanne unterzeichneten internationalen Verträgen stehe, da sie offen versuche, die Existenz einer ethnisch-türkischen Minderheit in Griechenland (in der Region West-Thrakien) darzustellen, wogegen laut diesen Verträgen nur die Anwesenheit einer religiösen, muslimischen Minderheit in dieser Region anerkannt wird... Die Bezugnahme auf eine türkische Identität wird nicht gemacht, um auf eine entfernte türkische Herkunft hinzuweisen, sondern eine aktuelle Qualität [der Mitglieder dieser Vereinigung] als Mitglieder einer türkischen Minderheit anzuzeigen, die in Griechenland existiere, und um innerhalb des griechischen Staates die Förderung der staatlichen Interessen eines fremden Staates, insbesondere der Türkei, zu betreiben... Die klagende Organisation unterlässt es durch ihr im Wiederspruch zu den oben genannten Verträgen stehendes Beharren auf der Verwendung des Adjektivs „türkisch“ in ihrem Namen nicht nur, für das friedliche Zusammenleben der Bürger in der Region Sorge zu tragen, was für das Wohlergehen beider griechischer Gemeinschaften, der christlichen wie der muslimischen, notwendig ist, sondern wirft zudem das nicht existierende Problem einer ‚türkischen’ Minderheit auf.“
Der Verein ‚Türkische Union von Xanthi’ wurde 1946 gegründet und war im Jahre 1984 mit der Begründung aufgelöst worden, er stelle eine Bedrohung für die nationale Sicherheit dar. Seitdem war der Fall vor den Gerichten verhandelt worden.

Amnesty International steht auf dem Standpunkt, dass das Versäumnis, das Verbot der Aktivitäten solcher Vereine aufzuheben, internationales Recht und internationale Standards bezüglich des Rechtes der Vereinigungsfreiheit verletzt, insbesondere Artikel 22 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Obwohl die Justizbehörden feststellen, dass „die Ablehnung eines das Wort ‚türkisch’ enthaltenden Namens eines Vereins nicht uneingeschränkt gilt“, so weckt doch die Tatsache, dass bisher keine solchen Vereinigungen in Griechenland zugelassen wurden, die Besorgnis darüber, dass die griechischen Behörden es versäumt haben, ihrer Verpflichtung zur Respektierung, zum Schutz und zur Erfüllung der Rechte von Angehörigen von Minderheiten nachzukommen. Die Sorge besteht besonders angesichts der Tatsache, dass die Urteile eine anerkannte Minderheitengruppe betreffen, auch wenn der zur Bezeichnung dieser Gruppe verwendete Begriff von der Amtsgewalt diskutiert wird. Daher bestehen weitere Bedenken dahingehend, dass die Urteile im Widerspruch stehen zu Artikel 2.4 der UN-Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören, nach der „Angehörige von Minderheiten das Recht haben, eigene Vereinigungen zu gründen und zu unterhalten“.

Versagen, das Erbe diskriminierender Politik aufzuarbeiten

Anlass zur Besorgnis in Bezug auf die Verpflichtung des Staates, die Rechte der Angehörigen von Minderheiten zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen, bietet das Versäumnis, Entschädigung zu leisten für Menschenrechtsverletzungen, die unter einer Rechtsprechung geschahen, die bereits verurteilt wurde, weil sie den Gesetzen und Standards des internationalen Menschenrechts und nationaler Gesetzgebung über Nichtdiskriminierung nicht genügt hat. In diesem Zusammenhang ist Amnesty International besorgt über die fortgesetzte Weigerung der griechischen Amtsgewalt, Angehörigen der muslimischen Bevölkerung in West-Thrakien wieder Identitätsausweise auszustellen. Gemäß dem 1998 abgeschafften Artikel 19 des griechischen Staatsagehörigkeitsgesetzes konnten griechische Staatsbürger nichtgriechischer Abstammung ausgebürgert werden, wenn die griechischen Behörden der Auffassung waren, sie seien ins Ausland emigriert. Ein große Zahl von Angehörigen der muslimischen Minderheit in West-Thrakien sind nach diesem Artikel 19 zu „Nicht-Staatsangehörigen“ (ανι θαγενείς) erklärt worden. Sie verloren ihre Staatsbürgerschaft, weil sie unter bestimmten Lebensumständen das Land verlassen haben, und haben sie bis heute nicht zurück erhalten. In der Praxis war die Anwendung des Paragraphen 19 nie transparent und sie führte daher zum Entzug der Staatsangehörigkeit von Personen, die niemals beabsichtigten zu emigrieren. So wurden in einigen Fällen Personen ausgebürgert, die lediglich für einen Kurzurlaub in die benachbarte Türkei gereist waren. Außerdem ergriffen die Behörden keine angemessenen Maßnahmen, um die betroffenen Personen rechtzeitig von der beabsichtigten Ausbürgerung in Kenntnis zu setzen, damit sie Gelegenheit zum Widerspruch gegen die Entscheidung haben. Einige der Personen, die nach Artikel 19 ausgebürgert wurden, wissen es vielleicht bis heute nicht. Angehörige des muslimischen Minderheit, die auf diese Weise ihre Staatsangehörigkeit und auch die Möglichkeit zum Widerspruch dagegen verloren haben, wird auch der Zugang zu staatlichen Zuwendungen oder Einrichtungen verwehrt, auf die griechische Staatsbürger Anspruch haben (z.B. Leistungen der Sozialhilfe, Zugang zu bestimmten Gesundheitsdienstleistungen, Rentenzahlungen, Ausstellung von Identitätsausweisen etc.).

Auch nachdem der Artikel 19 des Staatsangehörigkeitsgesetzes 1998 abgeschafft wurde, weil er als diskriminierend angesehen wurde, ist Amnesty International besorgt darüber, dass die griechischen Behörden bis heute ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, die Rechte der zur muslimischen Minderheit in West-Thrakien gehörenden Personen zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen, und zwar indem sie es versäumten, die von einem Verlust ihrer Staatsbürgerschaft betroffenen Personen unverzüglich und eindeutig zu informieren, damit sie von ihrem Widerspruchsrecht hätten Gebrauch machen können, und indem sie es ablehnen, die Fälle aller von der Ausbürgerung nach Paragraph 19 betroffenen Menschen erneut zu verhandeln und ihre Ansprüche auf die Staatsangehörigkeit anzuerkennen.

In einem im Februar 2004 vom Büro des Ombudsmanns veröffentlichten Bericht wurde die Vorgehensweise bei der Untersuchung der Ansprüche eines dieser „Nicht-Staatsangehörigen“ auf Wiedereinbürgerung für unzureichend befunden. Der untersuchte Fall betraf eine junge Frau, die 1999 gemeinsam mit ihren Eltern und ihren drei Schwestern die Einbürgerung beantragte, als der betreffende Artikel 19 des Staatsangehörigkeitsgesetzes abgeschafft wurde. Die Familie hatte 1984 ihre Staatsangehörigkeit verloren, als die Antragstellerin zwei Jahre alt war. Während die übrige Familie dem Vernehmen nach wieder eingebürgert wurde, wurde die Antragstellerin erst im Jahr 2003 darüber informiert, dass sie, damit ihr Fall noch geprüft werden könne, Gebühren in Höhe von 1.500 € zu zahlen habe, wie sie Ausländer bei einer Einbürgerung zu leisten hätten. Im folgenden Gesprächskontakt mit dem Ombudsmann erklärte das für die Prüfung des Antrags zuständige Innenministerium, dass die Prüfung des Antrags eingestellt worden sei, weil die Bewerberin bei Antragstellung minderjährig gewesen sei. Nach der Untersuchung des Falls beschied der Ombudsmann, dass diese Argumentation geltendem nationalen Recht widerspricht, nach dem verheiratete Minderjährige (wie es die junge Frau zum Zeitpunkt des Antrags war) das Recht haben, ihre Ansprüche selbst zu vertreten, um ihr persönliches Wohlergehen zu gewährleisten oder zu verbessern. Außerdem stellte der Bericht fest, dass die Forderung einer Gebühr internationalem Recht und internationalen Standards widerspricht. Es widerspricht Artikel 32 der UN-Konvention über den Status von staatenlosen Personen, die Griechenland ratifiziert hat. Der Artikel stellt fest, dass „die Vertragsstaaten so weit wie möglich die Eingliederung und Einbürgerung staatenloser Personen vereinfachen sollen. Sie sollen insbesondere jede Anstrengung unternehmen, um den Einbürgerungsprozess zu beschleunigen und so weit wie möglich die Anforderungen und Kosten solcher Verfahren reduzieren.“

Schluss
In ihrem dritten, im Jahr 2004 veröffentlichten Bericht über Griechenland fordert die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) die Behörden auf, zu gewährleisten, dass alle Gruppen in Griechenland, die Mazedonen und Türken eingeschlossen, im Einklang mit internationalen Rechtsstandards ihre Rechte auf Vereinigungsfreiheit und Meinungsfreiheit ausüben können, und führt aus:

„Die griechischen Behörden sind eher bereit, die Existenz von Minderheitengruppen in Griechenland wie Pomaken oder Roma anzuerkennen, einschließlich der Tatsache, dass einige Angehörigen dieser Gruppen eine andere Muttersprache als Griechisch haben. Andere Gruppen stoßen immer noch auf Schwierigkeiten, zum Beispiel Mazedonen und Türken. Sogar heute noch stoßen Personen, die ihre mazedonische oder türkische Identität ausdrücken wollen, in der Bevölkerung auf Feindseligkeit. Sie sind Ziel von Vorurteilen und Stereotypen und werden teilweise diskriminiert, besonders auf dem Arbeitsmarkt.“

Dieses Kapitel ist nicht erschöpfend, was Menschenrechtsfragen im Zusammenhang mit dem Schutz von Minderheiten betrifft. Amnesty International ist jedoch weiterhin besorgt über das Versagen der Behörden, diese Probleme aufzuarbeiten. Die Organisation erhält weiterhin Berichte über das Versagen der Behörden, die Minderheiten betreffende Probleme der Religionsfreiheit zu lösen, einschließlich der ausführlich veröffentlichten Kontroverse über die Ernennung der Muftis.

Die Organisation begrüßt bisher unternommene Schritte wie die Streichung des Paragraphen 19, so dass vergangene Verstöße gegen Angehörige der Minderheiten aufgearbeitet werden können, die auf diskriminierende Gesetze zurückzuführen sind. Sie ist jedoch ernsthaft besorgt über die Folgen der Verstöße, unter denen die Opfer der früheren Politik bis heute zu leiden haben.

Empfehlungen zum Schutz der Rechte der von Minderheiten

Amnesty International fordert die Behörden dringend auf, durch folgende Maßnahmen sicherzustellen, dass die Bestimmungen der Artikel 9, 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllt werden:

- Ratifizierung des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, das Griechenland 1997 unterzeichnet hat;
- Überarbeitung der geltenden Gesetzgebung zur Arbeit von Nichtregierungsorganisationen hinsichtlich ihrer Wahrnehmung der Religionsfreiheit, der freien Meinungsäußerung und der Vereinigungsfreiheit.

Die Organisation empfiehlt dringend, Verstöße aufzuarbeiten, die Angehörige der Minderheiten infolge diskriminierender Gesetzgebung erlitten haben. Dazu gehören:

- die Gewährleistung, dass alle Personen, die unter solcher Gesetzgebung ihre Staatsbürgerschaft verloren haben, vollständig über die Bedingungen informiert werden, unter denen die jeweiligen Entscheidungen gefällt wurden;
- die Vereinfachung der Einbürgerung von Personen, die auf diese Weise ihre Staatbürgerschaft verloren haben, einschließlich der Aufhebung der betreffenden Gebühren, so¬wie durch Einsetzung von Verfahren zur Beschleunigung des Einbürgerungsprozesses;
- die Gewährleistung, dass alle Personen, die ihre Staatsangehörigkeit auf diesem Wege verloren haben, wieder Zugang zu sämtlichen Sozialleistzungen bekommen, die sie als griechische Staatsbürger hätten.

Die Organisation fordert die Behörden auf, die derzeitige Politik in Bezug auf die Anerkennung von Minderheiten zu ändern und insbesondere:

- die Praxis der Auflistung anerkannter Minderheiten zu stoppen und
- Mechanismen einzuführen, die sicherstellen, dass die Regierung ihre Verpflichtung einlöst, das Recht auf Selbstbestimmung der eigenen Identität aufgrund von klaren und objektiven Kriterien zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen.
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